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4. Biografisch-künstlerischer Weg
 
4.4.6.5 Werkbeschreibung T.A.05098 "Kristalltag"
 
     T.A.05098 Kristalltag
 
     Ort:  I. Private Wohnungen, II. Internet
     Zeit: 7., 9., 10. November 1998
 
     Material:  Blattgold, 1 Verbundsicherheitsscheibe 50 cm x 50 cm x 1 cm (bestehend aus 2 miteinander verbundenen 
                   Sicherheitsglasscheiben á 50 cm x 50 cm x 0,5 cm)
Die T.A.05098 Kristalltag wurde zum 60. Jahrestag der verhängnisvollen sogenannten Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 konzipiert. Der sich daraus an den Juden entwickelnde Pogrom war der bislang schlimmste in der Geschichte der nationalsozialistischen Judenvernichtung.
 
Die Idee zu dieser T.A. entstand anläßlich einer Ausstellung im Museum Arbeitswelt in Steyr mit den Themenschwerpunkten "Heimat -Vertriebene - Kristallnacht", im November 1998. Angerbauer wandelte das Thema der Kristallnacht zum "Kristalltag" um.
 
Zum Thema dieser Ausstellung entwickelte Angerbauer ein goldenes Bodenfeld.
 

In seiner T.A. Kristalltag macht er das Schicksal des polnisch-deutschen Juden Herschel Grynszpan zur Grundlage dieses Konzepts. Grynszpan schoß am 7. November 1938 in der deutschen Botschaft in Paris den Legationssekretär Ernst von Rath nieder, der ein Regimekritiker war und von der Gestapo überwacht wurde. Eigentlich wollte Grynszpan den deutschen Botschafter erschießen. Ernst von Rath erlag am 9. November 1938 seiner Verletzung und wurde vom NS-Regime, das seinen Tod propagandistisch ausschlachtete, zum deutschen Märtyrer erklärt. Das Attentat Grynszpans war Auslöser für Joseph Goebbels, zu spontanen Kundgebungen gegen die jüdischen Mitbürger aufzurufen. Die von staatswegen inszenierten Ausschreitungen gingen als "Reichskristallnacht" in die Geschichte ein.

 
Das Bild (Abb. 41) Herschel Grynszpans wurde von Angerbauer dem Internet (98) entnommen. Dieses zeigt ihn bei seiner Verhaftung. Angerbauer bearbeitete es digital in zwei Schritten.
 

Im ersten Schritt wird Schwarz und Grau durch Gelb (Abb. 42) ersetzt, während im zweiten Schritt Kontrast und Helligkeit durch den Faktor 79 entsteht. Hier schließt sich wieder eine Verbindung, daß 79 die elementare Ordnungszahl für Aurum ist und nur durch Verwendung der Zahl 79 das Bild so intensiv wirkt. Für Angerbauer steht "die Farbe Gelb (...) nicht nur in einem themenbezogenen, historischen Zusammenhang, (sondern) Gelb steht (auch) für die Wechselbeziehung von Gelb und Gold, (und) für die Verschmelzung von Bild- und Gestaltungsebene. Der Bildinhalt steht als Transportmittel für Kunst, Zeit und Wahrheit." (99)

 
Bildträger ist eine 50 cm x 50 cm x 1 cm große Verbundsicherheitsscheibe (Abb. 42). Der Bildinhalt wurde mit 8 cm x 8 cm großen Goldblättchen überzogen und unsichtbar gemacht. Am 6., 7. und 8. November 1998 wurden Personen, die selbst das Schicksal der Vertreibung erleiden mußten, von Angerbauer gebeten, ihre Spuren auf dem goldenen Feld zu hinterlassen. Insgesamt waren es siebzehn Stationen, die Angerbauer zusammen mit Georg Neuhauser(100) aufsuchte, wobei das goldene Feld von Ort zu Ort und von Mensch zu Mensch weitergereicht wurde.
 
Die erste Spur auf dem "Kristalltagobjekt" stammte von einer jüdischen Frau aus Wien (Abb. 43), die von 1942 bis 1945 im Konzentrationslager war und überlebte. Angerbauer sicherte ihr Anonymität zu. So wie damals Anonymität herrschte, so sind auch ihre und die anderen Spuren namenlos und anonym und doch beschreiben sie einen persönlichen und individuellen Weg
Mit Betreten dieser goldenen Fläche bildet sich sofort ein Spannungsverhältnis. Die aktuellen Fluchtspuren heutiger Vertriebener spiegeln das Leid und die Anonymität von damals. "Sie (...) setzen als Gestalter an (diesem) Kunstwerk mit ihrer persönlichen Spur - dem Symbol ihres Weges - ein positives Zeichen (...), welches im Zusammenhang mit zukünftigen Ereignissen als Mahnung für Toleranz und Besinnung dienen soll." (101)
 
Die weiteren sechzehn Stationen werden der Prozeß- und Photodokumentation (102) der T.A.05098 Kristalltag entnommen (Abb. 43):
 
"Aktuelle Fluchtspuren" aus Wien, Bosnien, Kosovo, Iran, Sowjetunion, Irak, Iran, Libanon, Tschechoslowakei und Rumänien - jüdische, islamische, christliche und orthodoxe Spuren verbinden sich im Gold. Sie verschmelzen und wandeln sich zu einem in "Gold verdichteten Spiegel der Zeit." (103)
 
Nach den "gespendeten" Spuren wurde die Sicherheitsglascheibe mit einer zweiten zusammengefügt. Die aktuellen Fluchtspuren sind im "goldenen Kern" konserviert. "Im Sicherheitsglas herrscht produktionsbedingte Spannung, Bildinhalt und Gold reflektieren diese Spannung nach außen." (104)
 

Am 9. November 1998 erfolgte der nächste Schritt in einer privaten Wohnung (105) im Kreise weniger Menschen, die mit dem historischen Geschehen in Beziehung stehen. Angerbauer schlug mit einem Hammer auf die obere Verbundsicherheitsscheibe (Abb. 44), so daß diese Scheibe mit einem Knall zerbarst. Die Spannung wurde gelöst und die sich vernetzenden Bruchlinien ließen ein sechzig sekundenlanges (106) knisterndes Geräusch hören, das mit Mikrophonen für den weiteren künstlerischen Vorgang aufgenommen wurde (Abb. 45 und Abb. 46). Die vom Hammereinschlag ausgehenden feinen Bruchlinien und Risse verbanden sich im Werk mit den menschlichen Spuren. Im Gegensatz dazu zentrierten sich diese menschlichen Spuren gleichzeitig im Hammereinschlag.

 
Für Angerbauer steht der Schlag stellvertretend für die Schicksalsschläge aller Vertriebenen, während der Knall des zerborstenen Glases die Schüsse des Attentats mit dem Klirren der Glasscheiben in der Reichskristallnacht vereint. Das Spannungsverhältnis im Werk überschreitet die Grenze des Aktionsortes. Die Privatsphäre der Wohnung und die Teilnahme eines kleinen zugelassenen Personenkreises steht im Gegensatz zu der Öffentlichkeit im Internet und der globalen Bedeutung des Themas.(107)
 
Am 10. November 1938, um 5 Uhr früh, sollten die Ausschreitungen nach dem Willen der NS-Machthaber abgeschlossen sein.
 
"Am 10. November 1998, um 5 Uhr früh, wurde der Knall der zerborstenen Verbundsicherheitsglasscheibe als eigentliches Kunstwerk in Form einer Audiodatei (108) ins Netz gestellt. Diese Datei kann und soll sich von hier durch die dem Internet typische Entladungsmöglichkeit verbreiten. Sie soll ihren Platz auf den ‚Homepages‘ der Welt finden als ein positives (Propaganda-) Symbol des: Niemals wieder - im Kleinen wie im Großen. Der Titel ‚Kristalltag‘ steht für das - das vergangene Dunkel der Nacht vertreibende - goldene Licht der Zukunft."(109)
 
Nach der Aktion erhielt das Werk am 19. November 1998 im FAZAT(110) in Steyr einen besonders ausgewählten Platz im Gebäude an einem Pfeiler, der den Schlotsockel des Museums bildet. Das Werk, in dem sich die Leidenswege aktuell Vertriebener manifestieren, soll sich nicht nur digital durch das Internet, sondern auch räumlich global über die Sphäre entladen.
 
Die künstlerischen Mittel und die Idee des historisch bedeutungsschweren Themas in eine Internet-Kunstaktion zu integrieren, stehen in einer starken Spannung zueinander. Die Polarität der Inhalte wechselt sich mit der Leichtigkeit der künstlerischen Umsetzung wie sie sich aus der Sicht der Rezipienten darstellt ab. Der Prozeß dieser künstlerischen Umsetzung erscheint jedoch nur dem Rezipienten als leicht, der das fertige Produkt bestaunen oder verbal angreifen kann. Der Gestaltungsprozeß war für den Künstler ein technisch sehr aufwendiger und emotional tiefgreifender Weg. Trotzdem stellt sich die Frage, ob das Knistern auf der Audiodatei tragfähig ist, um dem Thema dieser Aktion historisch gerecht zu werden.
 
Es ist problematisch, ein historisch so belastetes Thema in künstlerische Form umzusetzen, bietet es doch dem Betrachter sofort verschiedene Angriffsflächen zur Kritik. Um den inhaltlichen Strukturen gerecht zu werden, ist dieses Spannungsverhältnis jedoch notwendig. Die Art und Weise der Darbietung regt zum Nachdenken an und die ambivalenten Erscheinungsweisen des Goldes treten auch hier in den Vordergrund. Die Geschichte des Goldes enthält ähnliche Grausamkeiten wie die damaligen Ereignisse, die durch aktuelles Leid nochmals intensiviert werden.
 
Die damalige Propaganda wird heute durch die Öffentlichkeit des Internets ersetzt. Es zeigt sich, daß Gold und das Medium Internet durch ihre ambivalenten Erscheinungsweisen tragfähig sind, dieses Thema künstlerisch umzusetzen. Im ersten Moment scheint das Werk eine Blendung zu sein. Je nach Lichteinfall ist die goldene Fläche grell und erhaben. Die menschlichen Spuren sind nicht zu sehen. Bewegt sich jedoch der Betrachter und umkreist das Werk, so sieht er, daß sich hinter dieser Blendung im zweiten Schritt die verborgene Wahrheit befindet, die aus den Leidenswegen der Vertriebenen entstanden ist.
 
Am Abend der Ausstellungseröffnung und Buchpräsentation "Fluchtspuren" im Festsaal des Museums für Arbeitswelt wurde Angerbauer nach der Rezitation der Ausstellungstexte gebeten, selbst über sein Werk zu sprechen. Es war ihm aber angesichts der inneren Spannung nicht möglich:
 
"Der Schmerz, das Leid der Menschen, grausame Schicksale laufen in bewegten Bildern vor meinem inneren Auge ab. Als Rezipient der (vorherigen) Texte, die Wahrheit ‚Gold‘ zu empfinden, bedeutet gleichzeitig Täter und Opfer zu sein. (...) Die Fluchtspuren drücken mir immer noch die Kehle zu. (...) Das Wort "Internet", "Kunstaktion", ja "Kunst" in den Mund zu nehmen und noch den Wahnsinn der Konzentrationslager und Serienvergewaltigungen im Ohr zu haben, würde einer Vergewaltigung der Idee des Kristalltagobjekts gleichkommen." (111)
 
Angerbauer war es zwar nicht möglich, sich in diesem Moment der eigenen Anspannung der Öffentlichkeit zu stellen, dennoch verlangt er seinem Werk absoluten Öffentlichkeitscharakter ab. Zur Zeit (August 1999) ist die weitere Aufrichtung (Anbringung) des Kristalltagobjekts im Gespräch.
 

Um dem Öffentlichkeitscharakter noch mehr gerecht zu werden, wird eine Präsentation im September diesen Jahres im Holocaustmuseum in Washington angestrebt. Der Gedanke der Globalisierung taucht wieder auf, der sich durch das Internet noch mehr ausdehnen kann. Es ist festzustellen, daß das Werk "Kristalltag" in seiner Polarität nur durch den Einsatz des Internets überhaupt existieren kann. Angerbauer bleibt nicht auf einer künstlerischen Ebene stehen, sondern formt seine Kerngedanken und Ideen in einer Zeit, wo die "Verbreitung von Informationen medialisiert"(112) ist, immer weiter aus. In diesem Zeitalter der digitalen Vernetzung geht er den vielseitig medialisierten und technischen Innovationen angepaßt, konsequent seinen Weg.

 
 
 
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4.4.6.4. Internet Tagebuch - Dokumentation  < Zurück                 
 
(98) Bildinhalt zur Aktion stammt aus der Homepage des "ShoaNet-Holocaust biographien-G"
(99) Angerbauer Internetdokumentation 15.
(100) Neuhauser, Waltraud und Georg 1998
(101) Angerbauer Internetdokumentation 15.
(102) Angerbauer Internetdokumentation 16.
(103) Angerbauer Internetdokumentation 17.
(104) Angerbauer Internetdokumentation 15.
(105) Diese Wohnung steht mit dem historischen Geschehen in Bezug, denn sie wurde in der Reichskristallnacht verwüstet. Aus Anonymitätsgründen kann die Wohnung nicht näher benannt werden.
(106) die 60 Sekunden stehen für die vergangenen 60 Jahre
(107) Angerbauer Internetdokumentation 15.
(108) Angerbauer Internetdokumentation 18.
(109) Angerbauer Internetdokumentation 15.
(110) Forschungs- und Ausbildungszentrum für Arbeit und Technik
(111) Angerbauer Internetdokumentation 11.
(112) Zembylas, Tasos 1997, S. 128
 
Projektseite:  www.kristalltag.com